Der Traum ist aus

Es gibt Platitüden, die kann man gar nicht oft genug wiederholen. Dazu gehört fraglos die Platitüde der sich wiederholenden Geschichte (Marx/Hegel bzw. Tragödie/Farce). Was wir in den letzten Wochen und Monaten in einer Reihe von arabischen Ländern, aber auch in Israel und europäischen Staaten wie Griechenland, Spanien und zuletzt massiv in Großbritannien erleben durften, spricht Bände über die Zustände, in die Skrupellosigkeit und Eigensinn uns geführt hat.

Politiker wie Kohl, Thatcher & Co. haben vor 30 Jahren eine Bewegung angestoßen, die genau das wollte: Konzentration auf den Einzelnen, Individualismus und wirtschaftlicher Egozentrimsus – von konservativen Politikern gern als Selbstverantwortlichkeit verbrämt.

Damit stießen sie eine Entwicklung an, die wie alles zwei Seiten hat: Die eigene Zielgruppe ging wirtschaftlich ab wie eine Rakete, alle anderen Zielgruppen sind dabei, im Feuerstrahl dieser Rakete zu verglühen. Der Mensch an sich zählt nichts, es sei denn, dass er über die Mittel verfügt, sich ein heimelig Plätzchen in der Rakete zu sichern.

Jetzt wird genau das von den Politikern bemängelt, die diese Entwicklung mit verantworten bzw. in den letzten Jahren weiter gestützt haben. Sie sehen nicht, dass die außerhalb der Rakete über kurz oder lang nichts anderes tun, als mit derselben Skrupelosigkeit zu agieren, wie die in der Rakete: Sie versuchen sich zu nehmen, was sie kriegen können. Dazu bedienen sie sich natürlich anderer Mittel als die oben in der Kapsel. Eine Tatsache, über die sich nur wundern kann, wer ein Ignorant oder Idiot ist.

Ich kann nicht die Zukunft schauen, leider. Aber die Erschießung Mark Duggans in Tottenham am 4. August kann über mehrtägige schwere Ausschreitungen hinaus noch ganz andere Folgen haben, als bislang abzusehen ist. Die meisten Briten werden es vermutlich nicht im Detail kennen, aber in Deutschland hat es auch schon einmal eine ungerechtfertigte Erschießung gegeben (wenn auch unter anderen Umständen und mit einem offenbar deutlich unschuldigeren Opfer). Das war Benno Ohnesorg, der am 2. Juni 1967 von dem westdeutschen Polizisten Karl-Heinz Kurras getötet wurde. Damals unbekannt, heute pikant: Der Polizist war Stasi-IM der DDR, in der später Terroristen der RAF untertauchten. Was das miteinander zu tun hat? Der Kreis schließt sich 1980, als die terroristische Vereinigung Bewegung 2. Juni sich endgültig der RAF anschließt.

Alles an den Haaren herbeigezogene Vergleiche? Mag sein. Aber ich würde mich nicht wundern, wenn es eines Tages eine Art „Bewegung 4. August“ geben wird. Und Freunde, das Problem, das sich in den Gettos ergibt, ist weniger die fehlende Integration, das Problem ist die fehlende Teilhabe an der Gesellschaft. Wer an der Gesellschaft teilhaben kann, wird sich integrieren. Wem die Chancen dazu verbaut werden, kann es erst gar nicht. Und wenn die Gesellschaft eine Terrorkonsumgesellschaft ist, möchten die Leute an einer Terrorkonsumgesellschaft teilhaben. Wer nichts mehr zu verlieren hat, zieht eben los zum Einbrechen, Plündern und Klauen. Er kann nämlich nur gewinnen. Und je weiter die Schere auseinandergeht, desto weniger haben die Menschen auf der unteren Scherenklinge zu verlieren.

Ihr wollt wissen, wie die auf der oberen Hälfte ihr schweres Los sieht? Heute hab ich auf Tagesschau.de ein Interview mit dem Banker bzw. Bankpsychologen Joachim Goldberg gelesen. Sicher, das ein oder andere stimmt, was er sagt, z. B. dass Politiker keine Ahnung vom Geldwesen haben. So wie die meisten Leute im Bundestag keine Ahnung von gar nix haben. Nicht umsonst handelt es sich bei einem auffallenden Großteil um Politiker, die kaum bis nie das echte Leben kennengelernt haben, sondern aus bequemen Lehrer- und sonstigen Beamtenpöstchen ins Politikfach gewechselt sind. Wenn ich aber Folgendes aus dem Mund eines Bankers lese:

Die Politik hat das große Problem, dass sie immer auch dem Wähler verpflichtet ist.

dann wird mir ehrlich gesagt schlecht. Freundchen Goldberg, das ist kein Problem, das ist die Grundlage unseres Staates. Und das kannst Du Hirni zur Kenntnis nehmen, egal ob es Dir gefällt oder nicht! Und wenn Du es nicht zur Kenntnis nimmst, dann werden Leute Deines Standes in den kommenden Jahrzehnten ganz andere Probleme bekommen. Da bin ich mir zumindest sehr sicher.

Ich schließe mit einem Lied.

14 Gedanken zu “Der Traum ist aus

  1. Vorab: Es geht mir absolut nicht darum, den Herrn Goldberg in Schutz zu nehmen, aber… Es gibt nun mal Probleme, und es gibt Probleme, und für Banker gibt es nur Probleme.

    Goldberg hat vor gut zehn Jahren zusammen mit einem Rüdiger von Nitzsch ein Buch geschrieben: „Behavioral Finance“ (Verhaltensökonomik). Das war schwerpunktmäßig das Gebiet, auf dem er für die Deutsche Bank tätig war. Bei der Verhaltensökonomik geht es, wenn ich das richtig sehe, darum, praktisch unberechnenbare Reaktionen der Märkte eben doch berechenbar zu machen. Die Ökonomie versuchte ja lange, sich als Naturwissenschaft zu etablieren, so als funktioniere sie nach ewigen Gesetzen, die im gesamten Universum gelten, man müsse sie nur kennen. Und hier liegt der Hund begraben! Goldberg versuchte (und versucht vielleicht immer noch) hinter die Gesetzmäßigkeit der Märkte zu steigen, und kommt nicht eine Sekunde lang auf den Gedanken, dass es solche Gesetzte vielleicht gar nicht gibt, und bei der Rechnerei folglich nichts Verlässlicheres herauskommen kann als bei der technischen Analye, die unzuverlässig genug ist. Egal! Es geht mir nur darum, Goldbergs Verwendung des Wortes „Problem“ zu relativieren. Ich glaube nicht, dass er für die Abschaffung freier Wahlen ist, den Wähler also am liebsten los wäre, sondern er hätte ihn gerne berechenbar.

    Ansonsten stimme ich Dir zu. 🙂
    An Benno Ohnesorg hatte ich in dem Zusammenhang übrigens auch denken müssen.

    1. Bon, akzeptieren wir mal, dass es ein fachsprachliches Problem (sic!) ist. Was, bitte sehr, ist Goldberg dann für ein Fachidiot, dass er so einen Satz dann nicht nur sagt, sondern auch zur Publikation freigibt? Merkt er nicht mal, was er für die Ohren des Laien absondert? Und wie kommt es, dass das Gebaren der „Eliten“ sich genau so auswirkt, wie es sein Satz (aus Laiensicht) impliziert? Das ist immerhin etwas, was man nicht von der Hand weisen kann.
      Besonders schön fand ich heute im Radio Camerons Vorwurf, die „Selfishness“ der Unruhestifter sei für die Unruhen verantwortlich. Nach welcher Maxime leben denn die Banker? Altruismus?

      1. Zur letzten Frage: Ja, na klar! Aber davon abgesehen, hätten sie wahrscheinlich nicht mal ein Problem damit, sich auf Karl Marx zu berufen, der (sinngemäß) gesagt hat, jemand, der etwas so billig wie möglich kaufen möchte, ist moralisch nicht besser als jemand, der etwas so teuer wie möglich verkaufen möchte. Logische Konsequenz für Banker: Jemand, der sich nicht ausbeuten lassen will, ist nicht besser als jemand, der ausbeutet. Und ebenso natürlich sind Banker Fachidioten – und stolz darauf! Denn Geld regiert die Welt, und von Geld verstehen sie etwas. Nur eben von Menschen nicht.

  2. Ja, mir wurde auch ganz anders bei dem Satz von Goldberg. Die Politik ist In erst Linie dem Bürger verpflichtet, oder sollte es sein. kein AUCH, und schon gar kein LEIDER.
    Und dann der Satz „Die Leute verstehen nicht, dass ein Gut genau das wert ist, was dafür bezahlt wird. “ Wie soll man das verstehen? Wenn Telekom Aktien das wert sind / waren was Anleger früher dafür bezahlt haben, warum sind sie es jetzt nicht mehr?

    1. Ich glaube, so weit muss man nicht mal zurückgehen. Eine gewisse Grundsolidarität hat es auch vor ein paar Jahrzehnten noch gegeben. Aber sie wurde brutal weggeknüppelt. Treppenwitz der Geschichte bleibt natürlich, dass die USA jetzt an demselben Problem zu scheitern scheinen, an dem schon die UdSSR untergegangen ist: zu hohe Militärausgaben. Wirkt fast so, als ob der Krieg doch nicht der Vater aller Dinge zu sein scheint. 😉

      1. Stimmt auch wieder. Irgendwo zwischen dem 2. Weltkrieg und heute war es mal gut. Davon kann ich aber nichts sagen, bin wohl zu jung. Ich bin in dieser Egoismus-Mentalität aufgewachsen. Und es gibt nichts, was ich lieber tu als teilen. Das nennt man dann wohl Resilienz.

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