Bei dem Beitrag zum Baader-Meinhof-Kompott habe ich von Slash einen Denkanstoss bekommen, der mich gestern ein wenig beschäftigt hat.
Gut, er war nicht der erste, der auf die Opfer im Film hinwies, er war auch nicht erste, von dem ich diesen Gedanken gelesen habe. Und es hat mich auch beim Film gestört, dass die Opfer kaum mehr handeln, als seien sie stumme Puppen.
Der Knackpunkt liegt aber meines Erachtens woanders und ist von grundsätzlicher Natur:
Was macht die Täter für die Menschen so interessant und lässt die Opfer so uninteressant bleiben?
Dass sich besonders Angehörige von dieser Missachtung gestört fühlen, kann ich verstehen. Hier gibt es einen direkten Bezug zum Opfer, nicht aber zum Täter. Ich selbst habe auch mehr Bezug zu meinem Vater als zu dem Arzt, der dafür verantwortlich ist, dass mein Vater zwischen Weihnachten und Silvester starb, als ich acht war. Der Arzt interessiert mich keinen Deut. Er sollte mir natürlich heute nicht über den Weg laufen, weil ich ihm sicher keinen Guten Tag! wünschen würde, aber ansonsten ist er mir egal.
Aber genauso wenig haben wir doch einen Bezug zu anderen Tätern. Warum also sind dann Figuren wie Jack the Ripper, Ernst August Wagner, Peter Kürten und Fritz Haarmann für viele Menschen so interessant?*
Warum interessiert sich niemand für Mary Ann Nichols, Annie Chapman, Elizabeth Stride, Catherine Eddowes, Mary Jane Kelly?
Wer kennt heute noch den Schäfer Widmeier, Jakob Schmiederer, Heinrich Knötzele, Friedrich Geissinger, Christian Vogel, Friedrich Bauer, Georg Müller, Marie Bader?
Wer waren denn Frau Kühn, Rosa Ohliger, Rudolf Scheer, Emma Groß, Änne Goldhausen, Fritz Kornblum, Frau Mantel, Gertrud Hamacher, Luise Lenzen, Gertrude Schulte, Ida Reuter, Elisabeth Dörrier, Frau Meurer, Gertrud Albermann, Maria Hahn?
Und was ist mit Friedel Rothe, Fritz Franke, Wilhelm Schulze, Roland Huch, Hans Sonnenfeld, Ernst Ehrenberg, Heinrich Struß, Paul Bronischewski, Richard Gräf, Wilhelm Erdner, Hermann Wolf, Heinz Brinkmann, Adolf Hannappel, Adolf Hennies, Ernst Spiecker, Heinrich Koch, Willi Senger, Hermann Speichert, Alfred Hogrefe, Hermann Bock, Wilhelm Apel, Robert Witzel, Heinz Martin, Fritz Wittig, Friedrich Abeling, Friedrich Koch, Erich de Vries?
Was ist es, das diese Menschen für die meisten von uns so Entschuldigung uninteressant macht? Bei der Beantwortung der Frage kann weiterhelfen, wie Opfer in Krimis dargestellt werden. Hier ist das einzelne Opfer nämlich auch nur insoweit von Interesse, wie es nötig ist, um zu verstehen, warum sich sein Weg mit dem des Täters gekreuzt hat. Alles andere spielt keine Rolle, das Opfer bleibt Staffage, ein Requisit. Liegt das Desinteresse also auch im echten Leben daran, dass sie nur zufällig Opfer wurden? Dass sie ansonsten niemals auf unserem Radar aufgetaucht wären?
Was ist dann mit den Toten des Holocaust? Die sind schließlich genauso nur Opfer geworden, weil ein impotenter Vegetarier aus Braunau einen ausgeprägten Dachschaden und zig Millionen Helfershelfer hatte.
In den meisten Museen wird inzwischen nicht mehr versucht, die unvorstellbare Masse der KZ-Toten darzustellen. Nein, man ist darauf gekommen, dass es anschaulicher ist, wenn die Besucher einzelne Menschen und deren Leben kennenlernen. Nur so kann es gelingen, einen Bezug herzustellen. Als ich beispielsweise im KZ Neuengamme war, entdeckte ich auf einer Tafel, dass der Bruder von Vladimir Nabokov dort getötet wurde. Das schafft für jemanden wie mich, der Nabokov kennt und schätzt, sogleich einen Bezug.
Warum nun betreffen mich die eingangs erwähnten Filmopfer wie Ponto, Buback, Schleyer und erst recht deren Fahrer und Personenschützer nicht? Weil ich keinen Bezug zu ihnen habe. Ich kenne weder deren Familien, ich habe auch keinen Kontakt zu ehemaligen oder aktuellen Generalbundesanwälten oder Arbeitgeberpräsidenten. Ich habe keinen Bezug zu diesen Personen, einmal von den Tatsachen abgesehen, dass ich mit meiner Familie relativ nah bei der Entführung Schleyers war und hier meine erste bewusste Erinnerung an die RAF liegt. Oder dass ich ein paar Wochen mit dem früheren Besitzer von Buback Records gearbeitet habe (Ale Sexfeind von den Goldenen Zitronen, ein sehr netter Mensch übrigens).
Bleibt die Frage, was die Täter interessant macht. Meines Erachtens ist es vor allem die Anomalie, das andere. Ihre fehlende Hemmschwelle, auch noch die letzte Grenze zu überschreiten. Das, was man selbst niemals machen würde sei es, weil man juristische oder religiöse Verfolgung befürchtet, sei es, weil man sich nach dem kategorischen Imperativ richtet. Übrigens hat nicht erst der zweite Weltkrieg gelehrt, dass bei vielen Menschen einfach die Gelegenheit zum Morden reicht, um die Hemmschwelle verschwinden zu lassen.
* Ich habe an dieser Stelle natürlich nur wenige Täter exemplarisch genannt und hätte auch im Folgenden noch viel mehr Opfer aufzählen können.